Kids & Teens

Die andere Bescherung

Im Garten steht ein kleiner Tannenbaum. Jedes Jahr wird er etwas größer. Irgendwann wird er mal so groß sein wie das Haus.
In diesem Winter kann der kleine Tannenbaum zum ersten Mal in das Wohnzimmer hineinschauen. Und da sieht er, wie der Vater einen anderen Tannenbaum in einen Ständer stellt und festschraubt. 'Der ist fast doppelt so groß wie ich', denkt der kleine Tannenbaum. 'Aber warum hat er keine Wurzeln mehr?' 
Was passiert denn jetzt? Die Mutter hängt alle möglichen Sachen an die Äste: glitzernde Kugeln, Engel aus Stroh, Sterne, Kerzenhalter mit Kerzen. Und ganz viele silbern glänzende Fäden, noch dünner als Spaghettis. - Der kleine Tannenbaum schaut an sich selbst herunter: Da ist nichts, was blinkt und glitzert. Wie gerne möchte er auch mal so herrlich geschmückt sein!  
Draußen wird es allmählich dunkel, und es fängt an zu schneien. Bald ist der kleine Tannenbaum ganz eingeschneit. Jetzt kann er noch nicht mal seine grünen Nadeln herzeigen. Sehnsüchtig schaut er ins Wohnzimmer. Dort ist es jetzt auch fast dunkel. Nur die Kerzen am großen Tannenbaum leuchten. Die Mutter klingelt mit einem Glöckchen, und dann kommen die beiden Kinder mit dem Vater herein. Ihre Augen leuchten fast so hell wie die Kerzen. Dann lesen sie die Weihnachtsgeschichte und singen Lieder. Und jetzt, endlich, dürfen Vater, Mutter und die Kinder die Päckchen auspacken. Das ist eine Freude! Nur der kleine Tannenbaum wird noch trauriger.
Plötzlich hört er Schritte im Schnee. Die Mutter kommt in den Garten. Sie hat irgend etwas in der Hand und geht auf den kleinen Tannenbaum zu. Der erschrickt ganz freudig: Wird er jetzt doch geschmückt? Die Mutter hängt tatsächlich etwas an die Äste: ein kleines Vogelhäuschen, Meisenringe und Kugeln aus Körnern. Unten an den Stamm stellt sie eine Schüssel mit Haselnüssen. 'Aber da blinkt und blitzt doch gar nichts!', denkt der kleine Tannenbaum. 
Als die Mutter wieder im Haus ist, bekommt der kleine Tannenbaum Besuch: Ein Vogel setzt sich auf einen der verschneiten Äste und pickt am Meisenring. Jetzt bin ich wenigstens nicht mehr alleine, denkt der kleine Tannenbaum. - Am nächsten Tag kommen schon fünf lustige Vögel, die ganz hungrig an den Ringen und Kugeln knabbern. Und bald hat es sich unter fast allen Tieren herumgesprochen, dass es bei dem kleinen Tannenbaum etwas zu fressen gibt. Das ist ein Treiben im Garten! Der kleine Tannenbaum will vor Freude in die Luft springen. Aber das geht ja nicht. 
Als er nach ein paar Tagen ins Wohnzimmer schaut, wird der große Tannenbaum hinausgetragen. Keine glitzernden Kugeln mehr, keine silbernen Spaghettis, keine Strohsterne, keine Kerzen.
Armer, großer Tannenbaum, denkt der kleine Tannenbaum.
Und er ist überglücklich, dass sein Fest hier draußen im verschneiten Garten mit den vielen Tieren noch lange nicht vorbei ist.


© Matthias Hoppe