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Der Zaunkönig

Es war einmal ein König. Der lebte in einem Schloss. Er hatte ein paar Diener und einen Koch, aber sonst hatte er niemanden.

Jeden Tag nach dem Mittagessen ging er in seinem Park spazieren. Da lief er dann bis zum Zaun. Dort blieb er stehen und wartete, dass jemand vorbei käme. Aber es kam niemand. Er lehnte sich an den Zaun und wartete weiter. Eine Stunde. Zwei Stunden. Und noch eine halbe. Dann ging er wieder in sein Schloss zurück und machte einen Mittagsschlaf.

So ging das jeden Tag. Und weil der König so oft und so lange am Zaun stand, nannten seine Diener ihn den Zaunkönig. Aber das störte ihn nicht.

An einem Mittwoch vom Oktober stand der Zaunkönig wieder am Zaun, so wie jeden Tag. Und er wartete wieder, dass mal jemand zu ihm kommen würde. Aber es kam niemand. Doch: Nach einer Stunde und zwölf Minuten  kam ein kleiner Vogel geflogen und setzte sich neben den König auf den Zaun.

„Wer bist du?“, fragte der König den Vogel.

„Ich bin ein Zaunkönig“, sagte der Piepmatz.

„Was?“, rief der König, „ich bin auch ein Zaunkönig!“

„Echt?? Und was machst du hier am Zaun?“, wollte der Vogel wissen.

„Ich warte, dass mal ein paar Menschen vorbei kommen und sich mit mir unterhalten. Aber es kommt niemand.“

„Hhmm“, überlegte der kleine Zaunkönig, „ich glaube, das Problem ist der Zaun. Denk doch mal nach: Ein Zaun ist eine Sperre – so wie ein Stoppschild. Oder wie ein Gefängnisgitter. Meinst du, die Leute gehen gerne zu einem Gefängnis? Warum sperrst du dich ein? Du hast doch nichts Böses getan!“

„Nein, das stimmt“, sagte der große Zaunkönig zum kleinen Zaunkönig, „und du meinst wirklich, der Zaun ist schuld, dass niemand kommt?“

„Probier's aus; ich komme wieder“, zwitscherte der Vogel und flog weg.

Da befahl der Zaunkönig seinen Dienern, den Zaun rund um das Schloss abzureißen. Und er ließ in der ganzen Stadt Plakate aufhängen, auf denen stand: „Der Zaun ist weg! Das Schloss ist jetzt kein Gefängnis mehr. Ihr seid alle herzlich eingeladen!“

Und die Leute aus der Stadt kamen wirklich und besuchten ihren König. Am Donnerstag waren es fünfzehn, am Freitag schon dreiundvierzig, am Samstag sechsundsiebzig, und am Sonntag  hundertzwölf. Die Kinder tobten im Park und die Erwachsenen schauten sich das Schloss an und unterhielten sich mit dem König, der jetzt kein Zaunkönig mehr war.

Abends, als der König im Bett lag, dachte er: 'Mensch, sind das alles nette Leute! Ich war ja so ein Idiot! Gut, dass der Zaun weg ist! Wenn man Zäune und Mauern einreißt, kann man Freunde finden!'

Da klopfte es an sein Fenster. Es war der kleine Zaunkönig. „Na?“, fragte er, „hat's geklappt?“ - „Und wie!“, rief der König. „Danke, danke, danke!“ - Gern geschehen“, zwitscherte der Zaunkönig. Und er trällerte dem König noch ein Gutenachtliedchen.